Fachgruppe Zeitschriften

Keine falsche Ehrfurcht vor „academic divas“

Schweizer Wissenschaftsjournalist skizziert (un-)erwünschte Nebeneffekte der neuen Praxisnähe an den Hochschulen

München, 18.12.2014

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gleichen sich als gesellschaftliche Akteure immer mehr an – auch in den Methoden. Auf Einladung der Fachgruppen Zeitschriften und Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sprach der Schweizer Journalist und PR-Berater Beat Gerber über Praxisnähe in der Forschung und Agenda Setting an Hochschulen. „Spindoctoring for academic divas“, lautete der Titel des Vortrags im Münchner Presse-Club.

Spindoctoring
„Dem Boss den richtigen Dreh geben“, übersetzte Beat Gerber den im US-amerikanischen Wahlkampf geprägten PR-Begriff des Spindoctoring, das vor allem auf Personalisierung und Agenda Setting setzt. Gerber war selbst Spin Doctor. Bis zu seiner Pensionierung im Februar coachte er als persönlicher Kommunikationsberater den Präsidenten der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Davor war er Sprecher des der ETH angegliederten Paul-Scherrer-Instituts, davor Wissenschaftsredakteur beim Tages-Anzeiger. Promoviert ist er nicht. Nach seinem Abschluss als Bauingenieur an der ETH zog es ihn in die Industrie.

„Branding und Ranking“
„Keynotes, Begrüßungsformeln, Reden, Präsentationen und Medienzitate – das alles kann man sehr gut steuern“, nannte Gerber gängige PR-Instrumente. Wissenschaftskommunikation lebe derzeit von zwei Dingen: Branding und Ranking.

Als führender Forschungsstandort für Naturwissenschaften und Technik setze die ETH beispielsweise auf ein Image als Klima-Expertin. Ein Baustein, der zu dieser Außenwahrnehmung beitrug, war beispielsweise das Klima-Blog mit interdisziplinären Beiträgen aus Wissenschaft, Politik und Praxis, das Beat Gerber als PR-Berater konzipiert hatte.

Gerber forderte von der Wissenschaft generell mehr Praxisnähe. Angesichts der hohen Summen an öffentlichen Geldern, die in universitäre Forschung gesteckt würden, dürfe die Gesellschaft auch mehr konkrete Lösungsvorschläge und substantielle Beiträge zu politischen Entscheidungsprozessen erwarten, sagte er.

Zu viel Praxisnähe?
„Science meets practice“, beschrieb Gerber den Paradigmenwechsel der Hochschulen zur angewandten Forschung – nicht ohne an Beispielen für zu große Nähe zu den stakeholdern zu sparen. So fördere der brasilianische Energiekonzern Petrobras vor der Küste São Paulos Erdöl aus so genannten Pré-Sal-Feldern. Diese liegen in 7000 Metern Tiefe, unter dem Meeresspiegel und unter porösen Sediment- und Salzschichten. Die Technik für diese Tiefenbohrungen mit unkalkulierbarem, ökologischem Risiko liefert die ETH. Auch FIFA-Chef Sepp Blatter unterstütze die Forschung der ETH: Impuls und Gelder zum „Knorpel-Engineering“ seien im Wesentlichen von ihm, der zudem regelmäßig zu Gastvorträgen vors ETH-Auditorium trete.

Krise des Wissenschaftsjournalismus
Dennoch machte sich Gerber mehrmals für mehr Praxisnähe in der Forschung stark. Er wünsche sich Wissenschaft „als einen stakeholder unter vielen“, sagte er, „nicht nur den anderen über- oder beigeordnet“. Dazu brauche es allerdings eine kritische Öffentlichkeit. Hier sah Gerber das größte Defizit: Die Kollegen in den Redaktionen hätten zu viel Ehrfurcht vor den „academic divas“, es werde zu wenig hinterfragt. Den Medienschaffenden fehle die Fachkompetenz. „Es fehlen die Chronisten“, sagte er. Es gebe kaum noch Kollegen, die einen Überblick über die Forschungsergebnisse der letzten 20, 30 Jahre hätten.

„Den Wissenschaftsjournalismus gibt es fast nicht mehr“, zog er ein Fazit. Die Kompetenz, Wissenschaft zu erklären, liege inzwischen fast ausschließlich in den Kommunikationsabteilungen der Hochschulen. Nur sei deren Berichterstattung eben oft selektiv und unkritisch.

Stefanie Hattel

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