Hate Speech darf nicht zu Zensur führen
Foto: Hilde Stadler

BJVreport

„Man ‚berät‘ uns, welche Themen wir nicht aufgreifen sollen“

St. Petersburger Medienkonferenz über unabhängigen Journalismus liefert interessante Erkenntnisse

München, 19.08.2016

Dass in den Redaktionen kritischer Medien „geheime Besucher“ mit Beratungsmission vorstellig werden, oder auch Steuerfahnder und Staatsanwälte mit juristischen Schritten drohen, gehört in Russland zum journalistischen Alltag, wie wir später noch im Detail erfahren werden.

Wir diskutieren angeregt über redaktionelle Standards für unabhängigen Journalismus: Wie sind diese zu gewährleisten? Wie und wodurch werden sie gefährdet? Wir, das sind etwa 40 Journalisten aus Russland und aus europäischen Ländern, darunter ich als stellvertretende BJV-Vorsitzende. Anfang Juli 2016 trafen wir uns zum offenen Meinungsaustausch in St. Petersburg auf Einladung des Russischen Journalistenverbandes (RUJ), des Europäischen Journalistenverbandes (EFJ) und der Europäischen Union.

Nebulöses aus Polen
Eine Redakteurin von Telewizja Polska (TVP), dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in Polen, zeigt am ersten Tag Ausschnitte aus dem von ihr moderierten Politmagazin, berichtet über ihren Redaktionsalltag. Trotz Simultandolmetscherin gibt es Verständigungsprobleme.

Mir und anderen ist nicht klar, wie sich die umstrittene Reform der öffentlich-rechtlichen Medien in Polen, die von der nationalkonservativen Regierung Anfang 2016 lanciert worden war, auf die Journalisten bei TVP auswirkt. Die Ausführungen der polnischen Kollegin wirken wortreich nebulös, es bleibt offen, in wieweit TVP überhaupt noch unabhängig ist.

Wie frei können Sie in Deutschland berichten?
Auch mein Artikel im BJVReport („Kritik kann den Job oder das Leben kosten“) vom Februar 2016 ist Thema. Ob ich über das Hintergrundgespräch mit Nadeschda Aschgichina, der Vorsitzenden des Russischen Journalistenverbandes, ohne Beschränkung hätte schreiben können, werde ich gefragt. Ich bejahe und erkläre, dass der Report eine Verbandszeitschrift des Bayerischen Journalisten-Verbands sei.

Ob diese Freiheit auch für meine Berichterstattung als Korrespondentin für die ARD und den BR gelte, ist prompt die nächste Frage. Auch diese kann ich bejahen und schildere im Detail, wie ein Tagesschau-Bericht produziert wird, welche redaktionellen Standards grundlegend sind. Nachfragen und Kommentare lassen erkennen, dass diese Standards in einigen Ländern nicht selbstverständlich sind.

„Geheime Besucher“, die Redaktionen „beraten“
Ein Besuch bei der Wirtschaftszeitung Delovoy Peterburg führt uns die Realitäten in Russland vor Augen. „Zwei bis drei Mal im Jahr kommen ‚geheime Besucher‘, wie wir sie nennen, zu uns in die Redaktion. Sie machen dann deutlich, über welche Themen wir nicht berichten sollen", erläutert Chefredakteur Maxim Vasjukov.

Delovoy Peterburg, herausgegeben von der Bonnier Business Press Gruppe, ist die führende Wirtschaftszeitung in Sankt Petersburg mit einer Auflage von zirka 20.000 Exemplaren und 120.000 Lesern. Wir erfahren, dass diese Art von „Beratung“ nicht nur bei Delovoy praktiziert wird. Dennoch könne man, wie Vasjukov betont, gerade in der Region Qualitätsjournalismus bieten, sofern man „gewisse Grenzen“ beachte.

Investigativer Journalismus in Russland
Was im Ausland kaum wahrgenommen wird: Es gibt Nischen in Russland für die freiheitsorientierte Zivilgesellschaft, die Nichtregierungsorganisationen, Universitätsinstitute und Medien nutzen. So konkurrieren im Print- und Online-Bereich neben staatlichen, regierungsnahen auch unabhängige Medien. Bei letzteren findet der Leser rechercheintensiven, investigativen Journalismus, und das nicht nur bei der national und international bekannten Nowaja Gaseta, sondern auch und gerade bei regionalen Zeitungen und auf Websites.

Russisches Staatsfernsehen dominiert
Dagegen wird das russische Staatsfernsehen, laut Umfragen für etwa 85 Prozent der Bevölkerung die wichtigste Informationsquelle, vom Kreml dominiert und bildet die Linie der Regierung und von Präsident Putin ab. Mit dem omnipräsenten Staatsfernsehen können die ambitionierten Zeitungen und Webseiten im Land kaum mithalten, zumal sie nur eine begrenzte Leserschaft erreichen, die meist im urbanen und intellektuellen Milieu verortet ist.

Umgang mit Hasskommentaren darf nicht zu Zensur führen
Thema am zweiten Tag: Die neuen Gefahren und Herausforderungen im Digitalen Zeitalter. Ricardo Gutiérrez, Generalsekretär des Europäischen Journalistenverbandes (EFJ), unterstrich die Verantwortung von Herausgebern, leitenden Redakteuren und Journalisten im Umgang mit Hasskommentaren im Netz.

Zensur, sagt Gutiérrez, sei nie die richtige Antwort auf Hasskommentare. Er verweist auf die jüngste UNO-Resolution zum Schutz der Menschenrechte im Internet. „Russland und China hatten versucht, die Resolution aufzuweichen, doch sie scheiterten, was ich sehr begrüße“, erklärt Gutiérrez.

1,2 Millionen geblockte Websites in Russland
In Russland ist die Zensur im Netz allgegenwärtig. Derzeit würden fast 1,2 Millionen Websites in Russland geblockt, darunter 470.760 Websites gesetzeswidrig, erklärt Svetlana Kuzenova vom Zentrum zum Schutz von Massenmedien, eine Nichtregierungsorganisation.

Online-Journalismus lebt trotz Repressionen
Mit dem neuen Antiterrorgesetz und vor den Parlamentswahlen Mitte September 2016 hat sich die Lage noch verschärft. Trotz und auch wegen der Hürden und Blockaden gewinnen Online-Portale als kritische Meinungsforen in Russland an Bedeutung. Gerade bei Jüngeren gelten sie als Garanten für unabhängigen Journalismus.

So hatte die unabhängige Online-Zeitung Fontanka.ru die Aktivitäten russischer Söldner in Syrien und der Ukraine aufgedeckt. Chefredakteur Alexandr Gorshkov erläutert uns die Hintergründe der schwierigen Recherchen.

Zum Abschluss der Konferenz berichtet Nadeschda Aschgichina, die auch Vizepräsidentin des Europäischen Journalistenverbandes (EFJ) ist, sichtlich stolz über ein hoffnungsvolles Projekt: Unter der Schirmherrschaft von Dunja Milatovic, der OSZE-Beauftragten für Medienfreiheit, würden Journalisten aus Russland und der Ukraine wieder miteinander reden. Anlass für Aschgichina, alle anwesenden Journalisten zur Fortsetzung „unseres Dialogs“ aufzurufen. Denn trotz aller Unterschiede gebe es doch viele Gemeinsamkeiten, die es zu stärken gelte.

Hilde Stadler

Hintergrund
„Redaktionelle Standards für unabhängigen Journalismus“ lautete das Thema einer internationalen Medienkonferenz Anfang Juli 2016 in St. Petersburg. Gastgeber waren der Russische Journalistenverband (RUJ) in Zusammenarbeit mit der Europäischen Journalisten-Föderation (EJF) und der Europäischen Union.

Es war das zweite Treffen im Rahmen einer Konferenzreihe, initiiert von der EU, mit dem Ziel, den Dialog zwischen Journalisten in der EU und Russland zu fördern und zu verbessern. Das erste Treffen fand im April 2016 in London statt. Geplant sind noch zwei weitere Tagungen.

Schlagworte:

Pressefreiheit

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