Fanjournalismus, der bei den Nutzern gut ankommt: Oliver Griss' DieBlaue24 beschäftigt sich nur mit dem TSV 1860 München
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BJVreport

Oliver Griss: „Sechzig ist für mich das wirkliche Leben“

Ergänzung zur Titelgeschichte im BJVreport 2/2017

München, 19.04.2017

Oliver Griss (Jahrgang 1971, @OliverGriss & @dieblaue24) betreibt seit 2011 das Blog DieBlaue24. Er berichtet seit 28 Jahren über den TSV 1860 München, zwölf Jahre davon für die Münchner Abendzeitung.

Du hast 2011 vermutlich eines der ersten professionellen Blogs rund um einen Profiverein gegründet?

Schon vor der ersten großen Entlassungswelle bei der Abendzeitung München im Jahr 2010, von der ich betroffen war, habe ich diese Marktlücke gesehen – weil viele Zeitungsredaktionen in München zu diesem Zeitpunkt nicht crossmedial gedacht haben, sondern altmodisch aufgestellt waren. Diesen Schritt zu wagen, war für mich nicht einfach, weil ich nicht wusste, wie lange ich das finanziell und körperlich durchstehen werde. Bald feiert DieBlaue24 ihren sechsten Geburtstag.

Ein branchenaffiner Kollege meinte, dass es mittlerweile bei den meisten größeren Proficlubs in Deutschland solch ein Angebot gäbe – Dein Blog sei eine „Blaupause“ für dieses Modell gewesen, stimmt das?

Ich weiß nicht, ob DieBlaue24 ein Vorbild für andere Fußball-Blogs ist oder war. Was ich aber sagen kann: Wenn man von seinem Produkt überzeugt ist, dann lohnt es sich auch dafür zu kämpfen. Marc Merten, einer meiner Nachfolger bei der Abendzeitung als Löwen-Reporter und aus meiner Sicht ein absoluter Top-Journalist, habe ich in vielen Gesprächen von meinem steinigen Weg überzeugt. Er hat die AZ auf eigenen Wunsch verlassen und betreibt den GEISSBLOG.KOELN, ein Magazin über den 1. FC Köln. Der Name zu diesem Blog ist mir übrigens im Mallorca-Urlaub eingefallen. Merten schuldet mir dafür noch ein Essen.

2011 hattest Du zwölf Jahre Löwen-Berichterstattung bei der Abendzeitung hinter Dir. Wie bist Du auf die Idee gekommen DieBlaue24 zu gründen – vermutlich gab es für Dich mit Deiner Spezialisierung auf die Löwen keine Alternative auf dem Arbeitsmarkt?

Einer meiner früheren Chefs hat immer gesagt: „Wenn du über den FC Bayern berichtest, hast du es geschafft.“ Über diesen Satz habe ich mich immer köstlich amüsiert. Ich sehe das komplett anders. Ich war mit Bayern in Tokio oder in Barcelona. Oder berichtete bei der WM 2006 in Deutschland über mehrere Wochen aus nächster Nähe über die Nationalmannschaft. Im Vergleich zu 1860 hat mich das alles gelangweilt – der große Fußball ist Show, Sechzig ist für mich das wirkliche Leben.

Im Herbst 2009 hatte ich auch die Chance auf die andere Seite des Fußballs zu wechseln – weil ich aber nicht ohne 1860 sein wollte, habe ich das Angebot ausgeschlagen. Übrigens: Als ich DieBlaue24 2011 mit der finanziellen Unterstützung des ehemaligen Bundesliga-Profis Imre Szabics (jetzt Co-Trainer SK Sturm Graz) gründete, war der ursprüngliche Plan, diese Idee für jeden Bundesliga-Verein umzusetzen.

Schon 2011 war das Interesse an Nachrichten über die Löwen – trotz Dümpelns in der zweiten Liga – enorm. Trotzdem konnte man meinen die „Claims“ der Nutzer sind unter den Münchner Zeitungen und anderen Medien gut aufgeteilt. Was war Dein eigener Dreh mit dem Du in diesen Markt reingegrätscht bist?

Mein Vorteil war mit Sicherheit, dass mich die Löwen-Fans durch meine zwölf Jahre bei der AZ einerseits geschätzt, aber manchmal auch verteufelt haben. Man hat sich damit eine persönliche Anhängerschaft aufgebaut. Insgesamt schreibe ich jetzt seit 28 Jahren über den TSV 1860. Die Verwunderung war jedenfalls in der Münchner Zeitungslandschaft groß, als ich mit DieBlaue24 online ging. Ein so genannter Kollege von einer großen Zeitung versuchte mich mit bei vielen Fans und Funktionären zu diskreditieren – übrigens auch schon zu AZ-Zeiten, um von den eigenen Schwächen abzulenken. Er ist rumgelaufen und schrie, ich sei kein Journalist. Ein lustiges Kerlchen, aber leider die Realität. Der Konkurrenzkampf ist sehr schräg.

Wie würdest Du die Marktsituation heute beschreiben, Du schreibst selbst, dass Du mittlerweile 40.000 Leser am Tag hättest, bist Du damit die Nummer 1 bei diesem Thema in München?

Die Abendzeitung war früher mit Abstand die Nummer 1, hatte früher den besten Sportteil der Stadt. Damals gab es aber noch so genannte „Trüffelschweine“ wie Michael Graeter, Bernd Hildebrandt oder Hans Lehrberger – aber die großen Zeiten des Boulevards sind leider vorbei. Man braucht sich nur die Einbrüche der Verkaufszahlen der jeweiligen Zeitung anschauen. Das ist richtig bitter. Die Auflage der Bild-Zeitung verkauft sich beispielsweise in München am Tag 33.000 mal – wir reden von einer Weltstadt mit 1,6 Millionen Einwohner.

Durch die Zahlen von Google Analytics weiß ich, dass DieBlaue24 ausgesprochen beliebt ist. Wenn man in guten Monaten knapp fünf Millionen Seitenaufrufe in 31 Tagen generiert, dann kann das nicht so verkehrt sein. Nicht weil ich die Themen durch die Vereinsbrille sehe, sondern weil meine Leser schätzen, dass ich sie immer wieder mit Hintergründen, Exklusiv-Geschichten und Informationen zum Verein füttere.

Du betreibst persönlich einen immensen Aufwand für Dein Blog, es gibt praktisch keinen Tag, an welchem nichts über den TSV 1860 erscheint, Leser kommentieren rund um die Uhr, Du bist natürlich bei allen Spielen dabei und nebenbei musst Du Dich auch noch um die Vermarktung und Administratives kümmern – wie lang sind Deine Arbeitstage in der Regel?

Fast jeden Tag gehen fünf bis zehn Geschichten online. Ich stoße an meine körperlichen Grenzen. Aber ich war schon immer so: Wenn ich etwas mache, dann zu 100 Prozent. Auch zu AZ-Zeiten habe ich beispielsweise aus meinem Thailand-Urlaub einen neuen Trainer exklusiv verkündet. Wie lange die Arbeitszeit pro Tag ist? Bis zu 16 Stunden! Ich stehe mit dem Laptop auf und gehe mit ihm ins Bett. Eigentlich hatte ich eine andere Lebensplanung ...

Wie viel freie Mitarbeiter arbeiten für Dich, wie werden diese dotiert? Rechnet sich das Projekt überhaupt?

Eigentlich mache ich alles alleine. Ich habe Fans, die mir helfen. Einen Informatiker aus Berlin, ein Mädchen für Alles aus Dingolfing, einen 22-jährigen Kolumnisten aus dem Bayerischen Wald, der sehr gute Kommentare schreibt – und ein paar Fotografen, die ich bezahle. Seit vor drei Jahren ein großer Online-Vermarkter auf mich zukam, kann ich nicht klagen, was die Einnahmen betrifft.

Könntest Du Dir ähnliche Angebote wie DieBlaue24 auch bei anderen Sportarten vorstellen?

Wie gesagt, meine Startidee war, dies für jeden Profi-Verein in Deutschland zu machen. Bei anderen Sportarten, denke ich, wird es eher schwierig: Fußball ist mit weitem Abstand die Sportart Nummer 1 in Deutschland, danach kommt lange nix.

Ich lese Dein Blog von Anfang an, vor allem auch in den letzten Monaten. Bei der Berichterstattung über sportliche Themen, beispielsweise in den Live-Tickern kann ich sehr gut Deine journalistische Kompetenz erkennen: Spiele werden sachlich kommentiert und analysiert. Bei allen anderen Themen rund um den Verein habe nicht nur ich – sondern auch andere Kollegen – den Eindruck, dass die journalistische Distanz bei Dir verlorengegangen ist: es wird überwiegend wohlwollend über den TSV 1860 und dessen verantwortliche Akteure (Präsidium, Geschäftsführung) berichtet, negative Ansichten anderer Medien werden relativiert, die Ansichten des Investors Hasan Ismaik werden unkritisch weiterverbreitet – zumindest nach den Kommentaren zu urteilen gefällt dies aber trotzdem den meisten Lesern. Wie siehst Du das aus journalistischer Sicht?

Ich stehe hinter dem neuen Konzept. Mit Peter Cassalette gibt es endlich einen Präsidenten beim TSV 1860, der nicht seine persönlichen Interessen, sondern allein den Verein im Fokus hat. Wenn in der Presse steht, dass beispielsweise Armin Veh abgesagt hätte oder Slaven Bilic neuer Löwen-Trainer werden soll, dann erwarten meine Leser, dass ich sie aufkläre.

Und zu Hasan Ismaik kann ich nur eines sagen: Es gab in Bayern keinen einzigen Investor, der 1860 fünf Euro geschenkt hätte. Was ich damit sagen will: Es musste erst Ismaik kommen, um den Verein vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit zu retten. Ismaik wurde jahrelang als lebendiger Geldautomat benutzt und getreten. Man muss ihm aber auch vorwerfen, dass er sich verarschen hat lassen. Ich hoffe, dass Ismaik endlich mal Namen nennt und Beweise liefert, wer ihn alles hintergangen hat. Ich glaube, es würden sich einige sehr, sehr wundern.

Seit einem Jahr macht Ismaik aus meiner Sicht aber vieles richtig bei 1860. Es ist übrigens bei DieBlaue24 auch nachzulesen, dass ich Ismaik dafür schwer kritisiert habe, dass er vor zwei Jahren nicht auf Felix Magath gesetzt hat. Er war meine absolute Wunschlösung als neuer starker Mann bei den Löwen.

Der TSV 1860 schottet sich zunehmend von der Öffentlichkeit ab, das hat auch Folgen für die Berichterstatter, Interviewtermine mit Spielern, kurze Gespräche am Rande sind nur noch sehr schwer zu bekommen. Du tolerierst diese Praxis, weil sie Deiner Meinung nach dem Verein nach „13 elenden und erfolglosen Jahren“ helfe, auf einen professionellen Weg zu kommen. Dafür müssten auch die Reporter weniger „sportliche Nähe“ akzeptieren. Das kann der Verein selbstverständlich so handhaben, aber braucht es dann überhaupt noch Journalisten?

Leider werden Journalisten immer unwichtiger, weil viele Vereine ihre Informationen über die eigenen Social Media-Kanäle selbst streuen. Ich bin genauso betroffen von der neuen Medienpolitik. Mir gefällt natürlich auch nicht, dass nur noch ein öffentliches Training pro Woche stattfindet und man die Spieler aufgrund der fehlenden Trainingszeiten nicht mehr exakt über ihr Leistungsvermögen unter der Woche beurteilen kann. Aber das ist heutzutage leider branchenüblich.

Man muss 1860 auch irgendwie verstehen. Der Verein ist nicht nur an seinen vielen unerklärlichen personellen Fehlentscheidungen gescheitert, sondern auch an der gläsernen Geschäftsstelle. 1860 war über ein Jahrzehnt regelrecht eine Spielwiese für Journalisten. Die Bayern haben die Probleme schon vor zehn Jahren erkannt, ihr Restaurant geschlossen und das Trainingsgelände abgesperrt.

Du monierst in einem Blog-Eintrag („In eigener Sache“) eine „Hetzkampagne/Hetzjagd“ anderer Medien gegen Dich persönlich. Unter anderem würde Dir unterstellt, Du seist von Investor Ismaik „gekauft“. Du erhältst also keinerlei Zuwendungen weder vom Investor noch vom TSV 1860 für Deine Arbeit?

Wer sich in meinem Business ein wenig auskennt, weiß, was man mit meinem Traffic inzwischen verdienen kann. Ich habe mein erstes Interview mit Ismaik übrigens erst im Sommer 2016 geführt. Habe ich jemals behauptet, dass beispielsweise die Zeitung X bestochen gewesen sei, weil Ismaik ihr regelmäßig Interviews gab? Nein! Ich kann nur eines sagen: Mit Fleiß und Qualität kann man Berge versetzen, auch als sogenannter Einzelkämpfer.

Du beklagst die mangelnde Solidarität der Kollegen: Andererseits hast Du Dich überhaupt nicht kritisch oder in irgendeiner Form gegen die Repressionen des Vereins gegen Journalisten (letztlich auch gegen Dich gewehrt). Auch den Ausschluss der Bild-Kollegin Kristina Ellwanger hast Du nicht kritisiert. Über die Berichterstattung der Kollegen könnte man mitunter streiten, aber diese Maßnahmen sind damit nicht zu rechtfertigen. Überwiegt da Dein Vereins-/Faninteresse das hohe Gut der Pressefreiheit?

Pressefreiheit heißt für mich auch, dass man sich auch an gewisse Spiel- und Verhaltensregeln orientieren sollte. Werner Lorant hat zu AZ-Zeiten meine Fragen desöfteren auch nicht beantwortet oder einfach abgekanzelt – muss ich deswegen gleich die Pressekonferenz verlassen? Nein!

Ich habe die sogenannte Pressefreiheit unter Anthony Powers Vorgängern am eigenen Leib gespürt. Einige Printkollegen forderten, dass ich nicht für die Pressekonferenzen zugelassen werden solle, weil ich ja ein „Onliner“ sei. Ein ehemaliger Pressesprecher hat an die Flipchart vor versammelter Presse geschrieben: „Print gewinnt!“: Wo war da die Solidarität? Ich kann diese Scheinheiligkeit nicht nachvollziehen. Im Sportjournalismus hat leider die Qualität stark nachgelassen und der Neidfaktor gewaltig zugenommen.

Thomas Mrazek

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Sportjournalismus

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