Ulrich Wilhelm (Bildmitte) warnte vor „Scheinöffentlichkeiten und Polarisierung im Netz“, die beiden Moderatoren Harald Stocker und Andrea Roth stimmten dem BR-Intendanten zu
Foto: Maria Goblirsch

Fachgruppe Rundfunk

„Wir brauchen ein europäisches Ökosystem im Netz“

BR-Intendant Ulrich Wilhelm fordert EU-Alternative zu Facebook, Google und Co.

München, 12.04.2019

Alle, die in der digitalen Welt eine große Anzahl von Menschen erreichen wollen, sind auf die Infrastruktur angewiesen, die große US-Unternehmen wie Facebook, Google oder Youtube geschaffen haben. Diese erzeugen interessensgetriebene Inhalte durch von Algorithmen gesteuerte Filterblasen. So werden Nutzer lange in den sozialen Netzwerken gehalten.

„Diese Modelle basieren auf der Logik eines Geschäftsmodells, nicht auf der Grundlage einer Verfassung“, kritisierte der Intendant des Bayerischen Rundfunks (BR) Ulrich Wilhelm, bei einer Diskussionsrunde am Mittwoch im Münchner PresseClub, zu der die BJV-Fachgruppen Rundfunk und Online eingeladen hatten. Ziel sei nicht öffentlicher Diskurs, sondern die zielgerichtete Platzierung von Werbung sowie die Erhöhung der Verweildauer im Netz. Dazu werde eine Gemeinschaft Gleichgesinnter mit identischen Interessen gebildet.

Schein-Öffentlichkeiten bauen sich auf
„Das wird bedenklich, wenn es im Bereich politischer Überzeugungen geschieht“, warnte der derzeitige ARD-Vorsitzende. Die so entstandenen „Teilöffentlichkeiten“ führten zu dem Effekt, dass sich Leute in ihrem eigenen Weltbild bestätigt und in ihrer Haltung geborgen fühlten, sich jedoch immer weniger auf die Meinung und die Argumente anderer Menschen einließen. „Diese Polarisierung schreitet fort, Scheinöffentlichkeiten bauen sich auf, das Netz gibt dafür die beste Grundlage“, betonte Wilhelm.

Wie könnte eine Alternative aussehen? Der BR-Intendant forderte in der von Harald Stocker, Vorsitzender der Fachgruppe Rundfunk, und der stellvertretenden BJV-Vorsitzenden Andrea Roth moderierten Runde ein neues „europäisches Ökosystem im Netz“. Europa solle aus Gründen der Souveränität in der digitalen Welt eine eigene Alternative zu Facebook, Google und Co. entwickeln. Dort könnten dann Sender, Verlage, Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen und andere Institutionen ihre Inhalte einbringen oder verknüpfen.

Europäische Infrastruktur basiert auf europäischen Werten
Diese neue europäische digitale Infrastruktur für Qualitätsinhalte von Medien, Kultur und Wissenschaft benötige eine deutliche staatliche Unterstützung und sei auch eine öffentliche Aufgabe, betonte Wilhelm. „Europa kann das, wenn der Wille nur entfacht wird und alle wichtigen Akteure an einem Strang ziehen“.

Entscheidend sei, dass diese neue Infrastruktur auf europäischen Grundwerten fuße. Es mache einen Unterschied, ob sie nach amerikanischer Rechtsordnung oder Durchschnittskultur programmiert würden oder ob ihr die Besonderheiten und Werte, die Europa ausmachen, zugrunde lägen. „Es geht um ein Nervensystem der Gesellschaft, wir dürfen uns nicht weiter in Abhängigkeit begeben. Was es braucht, ist Souveränität im weiteren Sinn“.

Gefährliches Herrschaftswissen
Auf die Frage der Finanzierung des europäischen Ökosystems blieb Wilhelm noch weitgehend vage. Er kritisierte, dass viele Nutzer glaubten, das Internet sei kostenlos. Das sei eine naive Sicht der Dinge, „man zahlt nicht in Geld, aber mit seinen persönlichen Daten“, warnte Wilhelm. Der Mensch und seine Interaktionen werden permanent ausgelesen, Profile und Wahrscheinlichkeiten erstellt. Das sei ein gefährliches Herrschaftswissen, das es in der Geschichte noch nicht gegeben habe.

Hoffen auf die EU
Die Idee einer europäischen Plattform sei kein Thema nur für die ARD, stellte der BR-Intendant klar. Das sei allein nicht machbar. Entscheidend sei, dass sich möglichst viele Anbieter mit ihren Inhalten anschlössen. Für das vorgeschlagene europäische Ökosystem im Netz gebe es ermutigende Reaktionen etwa aus Frankreich und von der EU-Kommission, die sich nach den Wahlen Ende Mai noch einmal verstärkt der Regulierung der Internet-Riesen annehmen wolle. Eine solche Regulierung werde weiter erforderlich sein, die EU-Kommission und das EU-Parlament müssten sich künftig hier noch mehr einbringen.

„Wir brauchen eine neue Vision für Europa“, betonte Wilhelm. Noch sei man nicht so weit, sagen zu können, ob das Modell einer europäischen Infrastruktur gelinge. Man müsse darum ringen, dass unterschiedlichste Expertisen und Ideen zusammenkämen und am Ende ein Ganzes würden.

Der ARD-Vorsitzende gab sich im Münchner Presseclub optimistisch: „Es kann auch sein, dass wir feststellen werden, es ist zu schwierig, die USA ist zu weit voraus. Aber wir sollten das Nachdenken nicht zu früh einstellen“.  

Maria Goblirsch

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