BJVreport

Netzschau: Keiner weiß mehr *

Ratlosigkeit aber auch gute Ideen prägen den Online-Journalismus im Frühjahr

München, 17.06.2015

Online-Version der Netzschau aus dem gedruckten BJVreport, Ausgabe 3/2015

Frühlingsstimmung im Netz. Gerne würde als Schreiber davon berichten, dass zumindest wir Journalisten endlich wissen, wie wir online die definitive Erfolgsidee gefunden haben. Doch dem ist leider nicht so, weder dominieren Frühlingsgefühle noch kann man von einer Herbstdepression sprechen. Werfen wir einen Blick auf große und auf kleine Dinge, die unser Metier bewegen.

In Berlin jubelten einige KollegInnen Ende Mai: Das Lokalblog Prenzlauer Berg Nachrichten hat es geschafft sich zumindest für ein Jahr als Mitgliederzeitung zu etablieren. Die Macher des 2010 Blogs hatten ihre LeserInnen vor die Wahl gestellt: „Wir brauchen 750 Mitglieder. Sonst ist Schluß“. Auf Anzeigen wollen die Berliner künftig verzichten: „Eine kleine, aber unabhängige Zeitung wie unsere lässt sich nicht durch den Verkauf von Online-Anzeigen finanzieren. Es rechnet sich einfach nicht, wenn man auf unseriöse Angebote wie Schleichwerbung verzichten will.“ (mehr dazu unter: bjvlink.de/mitgliederzeitung). Es fanden sich 769 Mitglieder, die monatlich 4,90 Euro bezahlen. Eine feine Sache, aber mit 3768,10 im Monat eine mehrköpfige Redaktion finanzieren – was soll man davon halten? Ein Kollege bezeichnete diese Crowdfunding-Kampagne als „erbärmlich“ und riet „ Besser von außen die Tür abschließen“. Diesen Ausstieg haben einige Projektmacher auch schon nolens volens gewählt. Eine fundierte Analyse „Wie geht es dem Lokaljournalismus im Internet?“ bietet Hardy Prothmann in seinem Rheinneckarblog, dass er dabei auch für sein Netzwerk Istlokal wirbt, sei ihm zugestanden (bjvlink.de/istlokal).

Nicht nur die Kleinen haben zu kämpfen, sondern auch die Großen und die wiederum mit den ganz Großen. Polemisch kommentiert der Geschäftsführer der tageszeitung, Andreas Bull, in seinem Text „Bull-Analyse: Die neuen Diener der Datenkraken“ wie sich führende deutsche Medien (Bild, Spiegel Online, FAZ und Die Zeit) aus Verzweiflung mit ihren übermächtigen Mitbewerbern Facebook und Google verbünden (bjvlink.de/datenkraken).

Einige Meinungen zur Möglichkeit, dass Medienhäuser künftig ihre Artikel auf Facebook ausspielen – so genannte Instant Articles – präsentiert Horizont. Gewohnt gewählt drückt sich SZ.de-Chefredakteur Stefan Plöchinger aus: „Drastisch formuliert, ist Facebook für Medien eben ein Frenemy, oft friend, manchmal ein bisschen enemy, und so führen wir eben immer wieder partnerschaftliche Debatten über Chancen und Risiken.“

Bei der Süddeutschen Zeitung man sich in dieser Sache erst mal mit dem zurückhaltenden bayerischen „Schau’n mer mal“ (bjvlink.de/instant-articles). Die Buhmanrolle eines Bedenkenträgers gegenüber den ewiggleichen „Sollte-man-mal-Ausprobieren-Adabeis“ nimmt der DJV ein: Neben offenen Honorarfragen und dem Überlassen von Nutzerdaten an Facebook erwähnt der DJV-Vorsitzende Michael Konken folgendes: „Unterschwellig besteht die Gefahr, dass die Redaktionen langfristig nur noch solche Themen recherchieren und veröffentlichen, die Garanten für hohe Klickzahlen sind“ (bjvlink.de/djv-facebook).

Verabschiedet vom Reichweitenkampf hat sich Anfang des Jahres die Koblenzer Rhein-Zeitung. Deren Online-Auftritt ist nur noch für Abonnenten und Käufer von Zugangspässen zugänglich. Chefredakteur Christian Lindner berichtet von ersten Erfolgen dieser harten Maßnahme und prophezeit: „Das Reichweitenmodell wird zusammenbrechen“ (siehe Artikel-Anreißer bei Horizont: bjvlink.de/reichweite).

Kostenlos abrufbar sind übrigens die Abrufzahlen von Rhein-Zeitung.de und deren Interpretation durch Online-Chef Marcus Schwarze: „März 2015: Rhein-Zeitung.de mit 43 Prozent Minus. Fühlt sich dennoch gut an“ (bjvlink.de/gutes-minus).

Genug mit der Zahlenhuberei, nebenbei wird ja auch noch (Online-)Journalismus betrieben. Einen brillanten Überblick wie sich der Netzjournalismus gerade weiterentwickelt bietet alljährlich die Berliner re:publica. Dort gab es über ein Dutzend Workshops und Diskussionsrunden zum Journalismus, fein kuratiert hat Anna-Maria Wagner alle erhältlichen Videos und Dokumente zum Thema auf der DJV-Homepage (bjvlink.de/republica).

„Wie der Online-Journalismus die Herzen erreicht“, lautete der Untertitel des diesjährigen Frankfurter Tag des Online-Journalismus. Die Youtube-Playlist zu dieser vom Hessischen Rundfunk und der Evangelischen Kirche/epd ausgerichteten Tagung gibt es zum Durchzappen auf der Website des FTOJ und einzeln auf den jeweiligen Referentenseiten. Hier ist für jeden etwas dabei, ob Richard Gutjahrs Keynote „Make it Snackable“ oder „Sechs [ernüchternde!, T.M.] Dinge, die wir bei Spiegel Online über Storytelling gelernt haben“ von Barbara Hans. (www.ftoj.de).

Online geht im Journalismus doch vieles voran. Einen Beleg lieferte im Mai die freie Journalistin Pauline Tillmann. Sie hat „10 Trends für Journalisten von heute“ unterstützt von nextMedia Hamburg und der Hamburg Media School, zusammengestellt. Auf 84 Seiten bietet die Kollegin einen aktuellen Überblick zu Medientrends. Ob zu Mobile Reporting, Social Media, Datenjournalismus, Unternehmerjournalismus und Crowdfunding – hier werden die Zukunftsthemen angemessen behandelt und anhand von Beispielen dokumentiert (PDF-Download: bjvlink.de/10trends).

Die Informationslage bleibt für uns alle auf jeden Fall spannend: „Keiner weiß mehr“*. Die Überschrift ist eine kleine Reminiszenz an Rolf-Dieter Brinkmann und dessen gleichnamigen Roman. Der Literat Brinkmann starb 1975 und hatte nichts mit dem Netz zu tun.

Thomas Mrazek

BJV-Newsletter abonnieren!

Hier können Sie unseren kostenfreien Newsletter abonnieren. Bitte geben Sie Ihre E-Mail Adresse an. Das System sendet an diese Adresse einen Link, mit weiteren Informationen zum Abschluss der Anmeldung.